The Age of Trotzdem: Tag 1 auf der republica TEN

 

Hier unser Bericht vom Tag 1 der republica TEN, Europas größter Konferenz rund um Netzthemen, Blogging und Social Media in Berlin. Es ist mittlerweile die zehnte re:publica, die Konferenz hat  Jubiläum. Angefangen mit einem Treffen von 170 Bloggern im Jahr 2006, werden dieses Jahr 7000 Besucher in Berlin in dem ehemaligen Postverteilzentrum aus dem 19. Jahrhundert erwartet, in dem die re:publica seit ein paar Jahren stattfindet.

Das Gebäude besteht aus einem Vorhof und einer daran anschließenden Zentralhalle und insgesamt 17 unterschiedlich großen Konferenzräumen. In ‚Stage 1‘, der größten Halle, haben ca. bis zu 2000 Zuhörer Platz. Insgesamt umfasst die re:publica dieses Jahr 500 Vorträge oder Diskussionen, hier ‚Panels‘ genannt. Diese ‚Panels‘ sind teilweise in englischer und teilweise in deutscher Sprache gehalten.

 

 

 

 

Wir stürzen uns ins Getümmel, und besuchen am Anfang ein Panel, das sich mit Social Media Work mittels Snapchat befasst. Die Vortragende ist Mitglied des Social-Media-Teams des EU-Parlamentes in Brüssel. Snapchat ist bei Jugendlichen im Moment der ‚heiße Scheiß‘. Und Snapchat ist groß geworden. Früher noch eine Randerscheinung unter den Social-Media-Plattformen, hat Snapchat mittlerweile 200 Millionen Nutzer weltweit.

Die republica hat gegenüber dem letzten Jahr offensichtlich noch einmal an Relevanz gewonnen. Dies macht sich dadurch bemerkbar, daß dieses Jahr Unternehmen wie Daimler-Benz, Bosch, Deutsche Telekom, Öffentlich-Rechtliche wie das ZDF und die Politik, hier vertreten durch einen Stand des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (kurz: BMAS), auf der Konferenz mit eigenen Ständen anwesend sind. Außerdem tummeln sich Politikpromis wie Konstantin von Notz (Bündnis 90 / Die Grünen), Andrea Nahles (Bundesministerin für Arbeit und Soziales, SPD), William Cohn (bürgerlich Markus C. Kühne, neo magazin royale, zdf neo) und Netzprominente wie Markus Beckedahl auf dem Messegelände. Letzterer gehört allerdings als Gründer und Mitorganisator der republica schon lange dazu.

Wenn man auf den Ständen der großen und prominenten Organsiationen allerdings das Gespräch sucht, gewinnt man schnell den Eindruck, daß man die Idee der republica, nämlich das Verstehen und Durchdringen von Netzthemen, dort noch nicht so recht verstanden hat.

 

 

Daimler-Benz glänzt wortwörtlich mit einer ca. 4 Meter breiten silbernen Kugel, in dessen Innerem republica-Besucher mit Instrumenten selber Musikstücke aufnehmen können, die dann vor Ort auf den eigenen Twitter-Account des Besuchers verlinkt werden. Am Ende der republica macht Daimler dann aus allen aufgenommenen Musikstücken einen republica-Song. Eine nette Marketing-Idee, die aber auf die eigentlich relevante Frage, nämlich wie Daimler auf die Veränderung unseres Mobilitätsverhaltens, und noch viel wichtiger, auf die revolutionär neuen Konzepte solcher Anbieter wie Apple mit dem voraussichtlich 2020 erscheinenden iCar, Googles autonom fahrenden Autos oder Teslas neuem Mittelklassewagen, keine Antwort gibt. Denken wir zunächst.

Dann werden wir darauf aufmerksam, daß Daimler-Benz breiter aufgestellt ist auf dieser republica, nämlich neben der Discokugel noch mit einem Foodtruck, wo man mit einem Tweet bezahlt, und einen Kommunikationsort namens ‚Learning Society‘, der wie ein Klassenzimmer gestaltet ist . Dort stoßen wir auf einen jungen Herrn, der verantwortlich ist für Marketing und Kommunikation bei der Innovationsunit von Daimler-Benz, und haben das Gefühl, mit jemandem zu sprechen, der die Zeichen der Zeit verstanden hat und sich die richtigen Gedanken macht.

Denkt man über die Mobilität der Zukunft nach, dann denkt man an autonom fahrende Autos, intelligentes Schwarmverhalten, das Staus obsolet macht, Autos, die selber parken und auf Knopfdruck von Ihrem Parkplatz zum Passagier gefahren kommen, vor allem aber daran, daß Mobilität in Zukunft nur noch durch Servicegesellschaften betrieben wird, denen diese autonom fahrenden Wagen gehören – was bedeutet, daß die Gesamtzahl der zu produzierenden Autos nur noch einen Bruchteil der heutigen Produktionsmenge umfassen wird und die Wertschöpfung anders betrieben werden muß, nämlich eben als Servicedienstleister mit umfassender Softwarekompetenz.

 

 

Auch der ‚Head of Marketing, Development & Strategy‘ der Softwareunit von Bosch, mit dem wir uns unterhalten, macht sich die richtigen Gedanken über die Zeichen der Zeit und hat die Probleme verstanden, die auf uns im Allgemeinen und auf Bosch im speziellen zukommen.

 

 

Auch das ZDF ist dieses Jahr das erste Mal mit einem Stand vertreten. Man meint durch ganz nett gestaltete Visualisierung von Shit- und Candystorm-Äußerungen in Filmform, Schauspieler sprechen Tweets oder Posts, dem bereits bekannten Böhmermann-Computerspiel in Konsolenästhetik oder Filmvorführungen mit Virtual-Reality-Brillen an das junge Publikum anzudocken. Auf die eigentliche Frage, nämlich wie das ZDF auf die veränderte Medienrezeption jugendlicher Zuschauer, deren Abkehr vom linearen Fernsehen und ihrem Bevorzugen solcher Kanäle wie YouTube reagiert und wo man sich als Öffentlich-Rechtlicher Sender in sich einer immer schneller wandelnden Medienwelt verortet, bekommt man hier leider keine Antwort. Vielleicht ein ander Mal.

 

 

Offensichtlich hat man bei einigen ausstellenden Unternehmen die Idee der republica nicht richtig verstanden. Hier geht es nicht um ein Come Together von jungen Leuten, die man als solche adressieren muß, sondern um ein Come Together von mehrheitlich jungen Leuten, die etwas von Netzthemen verstehen, und sich Gedanken über die Zukunft dieser Gesellschaft machen. Um die damit zusammenhängenden Themen sollte man sich dort Gedanken machen. Wie gesagt, Daimler und Bosch bilden hier eine rühmliche Ausnahme.

Zum Abschluß des Tages besuchen wir auf Stage 1, der größten Halle mit Kapazität für etwa 2000 Zuschauer, noch den Vortrag des Number-One-Promis einer jeden re:publica, Sascha Lobo, der Herr mit dem roten Iro. Lobo gehört übrigens zu den re:publica-Urgesteinen und war als Blogger schon bei der ersten re:publica im Jahr 2006 dabei.

 

 

Er referiert darüber, daß man früher dachte, daß durch das Internet alles besser würde und beschreibt dann die derzeitige Lage hinsichtlich dieser Frage sehr lobo-esk als: So mittel. Er hebt ab darauf, daß aufgrund der Terrorattacken der letzten Zeit viele Leute umfassende Kontrolle akzeptieren würden, daß er monatelang gegen die Vorratsdatenspeicherung gegenangeredet und -gesprochen hätte, mit dem bekannten Ergebnis. Keinem nämlich. Das Internet hat nicht nur durch die umfassende Überwachung, sondern auch durch die massive Nutzung seitens terroristischer Organisationen seine Unschuld verloren. Er zitiert Michael Seemann, einen Blogger der ersten Stunde, der vor kurzem twitterte: „Manchmal glaube ich, daß man den Erwachsenen niemals von diesem Internetz hätte erzählen dürfen.“

 

 

Aus dieser fatalen Sicht und der Hoffnungslosigkeit, die ihn offensichtlich an einem Auftritt im letzten Jahr hinderte, folgert Lobo eine Haltung, die er zum Motto seines Vortrags macht: Trotzdem. Er nennt seinen Vortrag folgerichtig ‚The Age of Trotzdem‘. Er wird in der Folge wieder gesellschafts- und netzkritisch und spricht von der sogenannten ‚Haussmannisierung‘ des Internets. Haussmann war Architekt und Stadtplaner des Paris, wie man es heute kennt. Haussmann propagierte die Schaffung breiter Magistralen, großer Boulevards und Alleen, die das kleinteilige Gängegewirr des alten Paris lichten sollten, und so die unbemerkte Zusammenrottung von Aufständischen und das potentielle Versteck im Gängegewirr unmöglich machen sollten.

 

 

Lobo zitiert Sigmar Gabriel, der fordert, daß Deutschland im Jahr 2025 die modernste digitale Infrastruktur der Welt haben müsse, und stellt ein aktuelles Online-Ranking dagegen, laut dem Deutschland hinsichtlich der Netzqualität vor Polen und Jordanien an drittletzter Stelle aller erfaßten Staaten liegt. Er nimmt das Marketing großer Telekommunikationsdienstleister ins Visier und sagt sehr treffend: ‚Edge‘ ist gleich ‚Offline‘. Für alle Unkundigen: ‚Edge‘ war der vorletzte Übertragungsstandard vor LTE, auf den die meisten Anbieter alle diejenigen zurückfahren, deren monatliches LTE-Datentransfervolumen verbraucht ist. Die Telekommunikationsdienstleister nennen das dann Flatrate. Er zeigt zukünftige Entwicklungen an wie der, daß Snapchat die klassische Überweisung und große Teile der Bandenbranche obsolet zu machen droht, da man mit Snapchat jetzt auch bezahlen kann.

Er kritisiert den Fatalismus des zur Zeit oft zitierten Soziologen Harald Welzer, der in seinem gerade aktuellen Bestseller zur Digitalisierung und deren Folgen fordert: „Werft Eure iPhones weg!“. Er sagt hierzu sehr klug: Jedes Land hat die Digitaldebatte, die es verdient. Er kritisiert sich selbst und andere Netzaktivisten, indem er die Meinung äußert, das man oft eine zu technische Sicht der Dinge habe und die wirtschaftliche Komponente unterschätze. Er hebt dabei ab auf den von ihm geprägten, wunderbar treffenden Begriff des sogenannten ‚Plattformkapitalismus‘. Er referenziert auf eine Formel aus dem Management von IT-getriebenen Unternehmen, die da lautet „What gets measured gets managed“. In der Folge greift er die Problematik der Datensammelwut auf, indem er einen gefakten Tweet der Zukunft zeigt, in dem eine Versicherung seinen Versicherungsnehmer eine Nachricht schickt mit folgendem Inhalt: „Wenn Sie nicht in zehn Minuten ihre Zähne geputzt haben, verlieren Sie ihre Zahnzusatzversicherung.“ Man nennt das dann verniedlichend ‚Nudging‘. ‚To nudge‘ heißt auf Englisch ‚jemanden anstupsen‘ bzw. ‚jemandem einen Anstoß geben‘. So wird der erwachsene Krankenversicherte zum ungezogenen Kind, den es zu erziehen gilt. Und: Papa bzw. Mama entgeht nichts. Schöne neue Welt.

Er illustriert seine bereits vorher geäußerte Feststellung der verlorenen Unschuld des Netzes mit dem Umstand, daß die AFD soviele Follower auf Facebook hat, wie SPD, CDU und FDP zusammen. AFD und Pegida haben in den vergangenen Monaten zu weiten Teilen die Diskurshoheit in den Sozialen Netzwerken übernommen.

Zum Schluß kommt er wieder auf seinen Appell an die Netzgemeinde zurück, der immer wieder Kern jeder seiner Vorträge oder Kolumnen ist: Gestaltet den Wandel. Trotzdem.

It is the Age of Trotzdem. Das stimmt doch irgendwie hoffnungsvoll.